„Estampes“, so heißt ein Werk des französischen Komponisten Debussy, das man am sinngemäß mit Bildnisse oder Abdrücke übersetzen kann. Vor allem mit dem ersten Satz Pagodes verbinde ich eine Geschichte, an die ich bis heute noch denken muss. Wie ein Versehen meinerseits dazu geführt hat, dass ein ganzer Musik-Kurs Note 1 gekriegt hat.
Der Musik-Unterricht in Deutschland
Ich glaube, viele verbinden mit dem schulischen Musik-Unterricht nichts Gutes. Viele erinnern sich noch an die zähen Stunden, wo man stundenlang ein Werk von Haydn sich anschauen sollte und man dabei vor Langeweile einschlief oder an die peinlichen Momente, wenn man vor die gesamte Klasse gebeten wird und man vor allen Schülern singen musste.
Ja, der Musikunterricht hat freilich keinen guten Ruf und wird zuweilen eher wie ein erweiterter Geschichtsunterricht. Dennoch habe ich das bis in die Oberstufe gemacht auch in der Hoffnung, dass ich das Komponistenhandwerk eines Tages erlerne.
Mein Musiklehrer war ein äußerst exzentrischer Mann, der sich durch seine ansteckende Euphorie und seinen mindestens drei Tragetaschen, die er durch die Gegend schleppte, auszeichnete. Eine der seltsamsten Übungen mit ihm waren diese Rhythmus-Übungen, die ich wie die Pest gehasst habe. Das lustigste war aber stets die Art und Weise, wie er sie durchführte: „Brust Arsch, Brust Brust, Rechts links“ – Die Hand auf die Brust schlagen, dann auf den ähm Hintern, wieder Brust und dann rechts links mit den Beiden stampfen. Die Art und Weise, wie er jedes Mal „Arsch“ sagte, deutete daraufhin, dass er selbst die Anweisung nicht ganz ernst nahm und so hatte seine Stunde auch etwas Infantiles an sich.
Gamelan-Musik
So geschah es dann, dass ich mit demselben Lehrer außereuropäische Musik zu behandel hatte. Neben der Musik, die in Westafrika verbreitet ist und zu meinem Grauen viele Rhythmusübungen beinhaltete, haben wir uns auch die Musik Ostasiens und deren Rezeption in Europa angeguckt.
In Indonesien etwa wird eine spezielle Form von Musik aufgeführt, die unter dem Namen „Gamelan“ bekannt ist. Der Komponist, Claude Debussy, den ich bereits vorhin erwähnt habe, besuchte eines Tages zur Weltausstellung 1889 in Paris ein Gamelan-Orchester und war begeistert davon. (Nebenbei bemerkt ist das dieselbe Weltausstellung, wofür Herr Eiffel einen Turm errichten ließ.)1https://de.wikipedia.org/wiki/Gamelan#Einfl%C3%BCsse_auf_die_westliche_Musik
Das war also der Großteil des Musik-Unterrichts diese kulturellen Berührungen zwischen Europa und dem Rest der Welt zu untersuchen und darüber sollte es in der Klausur gehen.
Eine unglaubliche Entdeckung
Zugegebenermaßen machte die bevorstehende Klausur damals viele äußerst nervös. Gerade jene, welche nicht Klavier spielten, konnten kaum Noten lesen – geschweige denn mit Konzepten wie der Harmonielehre oder dem Quintenzirkel etwas anfangen. Durch einen „Fehler“ meinerseits, wenn man es so nennen mag, löse sich die Nervosität schlagartig und fast der gesamte Kurs bekam mindestens 13 Punkte, also Note 1-. Aber alles der Reihe nach.
Um sich anständig mit außereuropäischer Musik auseinandersetzen zu können, mussten wir neues Vokabular lernen. Einerseits kamen Begriffe vor, die es auch schon lange in Europa war, weil sie Teil der klassischen Musik sind: Chromatik, Polyphonie, Pentatonik …
Andererseits waren aber auch Wörter zu lernen, die typisch für Gamelan und für die dortige Kultur sind und wie üblich habe ich mir kein einziges Wort davon merken können. Eines von den Wörtern allerdings machte mich stutzig: Pagode, nach der Definition des Wiktionary „Ost-Asien: buddhistisches Bauwerk, Vietnam: Tempel-Anlage„2https://de.wiktionary.org/wiki/Pagode Stutzig wurde ich, da wir dieses Wort noch nie im Unterricht benutzt haben zu keinem einzigen Zeitpunkt. Wieso stand es überhaupt auf der Vokabelliste? Ob mein Lehrer vor lauter Begeisterung für Gamelan-Musik vergessen hat zu erwähnen, welchen Bezug eine Pagode zu unserem Thema besaß?
Nein, bald glühte meine Glühbirne und es kam eine Idee in den Geist: Das Letzte zum Thema Gamelan war die Klausur! Wenn ich nun also nicht aufwendig die Gamelan-Musik mit ihren Eigenarten lernen möchte, könnte ich mir doch in den Weiten des Internets auf die Suche machen, ob es Gamelan-Musik von Debussy mit Bezügen zu Pagoden gibt. Es reichte eine Google-Suche aus, um das Stück zu finden: Pagodes von Debussy.
Natürlich war ich kein Geheimniskrämer, der dies zu seinem eigenen Vorteil für sich erhielt. Unser Musik-Kurs besaß eine gemeinsame WhatsApp-Gruppe und dort teilte ich meine Entdeckung – mitsamt der mannigfaltigen Analysen und Interpretationen zu dem Stück. Es dauerte nicht lange, und fast alle Mitglieder bekamen von meiner Nachricht Wind und gemeinsam tauschten wir uns die präzisesten Interpretationen des Stückes aus.
Die Klausur, die uns allen eine 1 brachte
So frech, wie ich allerdings war, fragte ich meinen Musik-Lehrer in der Pause vor der Klausur, dass wir in der Vokabelliste das Wort Pagode noch nicht behandelt hätten. „Das werden Sie später für die Klausur brauchen“, antwortete er. „Ah, jetzt weiß ich, was für ein Stück rankommen wird!“
Da wurde es ihm schlagartig klar, dass ich das Stück erraten habe. „Aber nicht weitererzählen“, schob er noch nach. Zu spät. Zu dem Zeitpunkt, als ich ihn darauf ansprach, hatte das jeder aus der Musik-Gruppe gesehen.
Als dann die Klausur anstand, gingen die meisten von uns perfekt vorbereitet hinein. Die meisten? Ja, diejenigen, die nicht Teil unserer WhatsApp-Gruppe waren, schauten doof aus der Wäsche. Die haben erst nach der Klausur gelernt, dass der Großteil des Kurses das Klausurthema hatte. Unser Lehrer erzählte uns später, dass er sich wunderte, wie wir denn bitte so schnell konzentriert angefangen haben zu lesen. Normalerweise bräuchten die Schüler doch erst einmal Zeit, sich das Musikbeispiel anzuhören oder die Partitur zu lesen. Nein, der Großteil von uns kannte die Musik und Partitur ja schon und wir schrieben sofort.
Das Ergebnis war schlussendlich, dass wir die beste Klausur geschrieben haben, die unser Lehrer jemals gesehen hat. Gleich zwei Schüler mit 15 Punkten und fast der gesamte Kurs hatte eine eine 1, der Durchschnitt lag bei 12 Punkten, da einige wie gesagt nicht von meiner Nachricht informiert wurden. Wir hatten unserem Lehrer auch sofort erzählt, wie wir denn so gut abschneiden konnten und gemeinsam hatten wir etwas zu lachen. Der Lehrer meinte daraufhin nur ironisch: „Na ja, dann war es halt wie ein Elfmeter ohne Torwart. Einige haben trotzdem den Elfmeter vergeigt. Das nächste Mal werde ich die Vokabelliste anpassen“.
Im Übrigen war es bei weitem nicht das erste Mal, dass ich das Klausurenthema erraten habe. Als wir in Musik einmal das Thema „Musik der Romantik“ uns angeschaut haben, haben wir uns insbesondere nationale Musikschulen angeschaut. Schwerpunktmäßig behandelten wir den Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung von Modest Mussorgski. Zur Klausur wusste wir bereits, dass wir ein Klavierstück aus dem 19. Jahrhundert und dessen Bezüge zur russischen Volksmusik analysieren soll. Auf die Frage, ob es sich um ein Stück aus jenem Klavierzyklus handelte, antwortete meine damalige Lehrerin nur, dass ich mir meine eigenen Schlussfolgerungen aus den Klausurangaben machen könne, ohne dass sie es kommentieren müsse. Und ich habe es erraten, das Klausurthema war Bydlo von Mussorgski. Ich habe stundenlang mir also den ganzen Klavierzyklus angehört und alle Interpretationen dazu durchgelesen. Bei der Gamelan-Musik hingegen wusste ich, dass es sich um das eine Stück von Debussy handeln musste.
Eine kurze Analyse
Es folgt nun eine kurze Analyse des Debussy-Stückes. Ganz im Geiste meiner Klausur allerdings werde ich mir sämtliche Analysen teils ohne Quellenangabe aus dem Internet klauen und es als eigene Schöpfung verkaufen.
Ganz grundsätzlich kann man sagen, dass Debussy die Mehrschichtigkeit und die charakteristischen Bewegungsformen der Gamelanmusik übernimmt. Pagodes besitzt minimal eine und maximal vier gleichzeitig ablaufende Schichten, in den meisten Takten sind es allerdings drei. Die vier Schichten sind folgendermaßen gestaltet:
- Oberste Schicht: ein stark figuriertes Motiv in H‑Dur-Pentatonik, das immer wieder leicht abgewandelt wird; teilweise Melodiespiel
- Mittlere Schicht (1): Melodiespiel
- Mittlere Schicht (2): repetierte, ostinate Akkorde oder Akkordbrechungen
- Tiefste Schicht: lange ausklingende Basstöne, meist auf die „1“ des Taktes
Schon in den beiden Anfangstakten gibt Debussy die wichtigsten Merkmale vor. Hierin finden sich mit den Tönen h, fis und gis drei Töne der das Stück beherrschenen H‑Dur-Pentatonik (h, cis, dis, fis, gis). Auch das Intervall der großen Sekund (in der obersten Stimme: fis1 und gis1), das über weite Strecken präsent ist, wird hier schon vorgestellt. Auch ist die dreischichtige Struktur von tiefen, mittleren und hohen Instrumenten schon gut zu erkennen. In der tiefsten Schicht geben Akkordschläge auf die „1“ des Taktes die metrische Orientierung für die restlichen Stimmen. Nach dieser zweitaktigen Einleitung findet sich in den Takten 3 und 4 in der obersten Schicht ein pentatonisches Motiv, das sich in vielen Varianten und mit wenigen Ausnahmen durch das ganze Stück hindurchzieht. Dieses soll die hellen Gamelaninstrumente mit den schnellen Bewegungen darstellen. Schließlich kann man, wenn man möchte, auch die Pagode am Notenbild erkennen.
Typisch für Debussy ist das langanhaltende Pedal sowie die vielen Orgelpunkte, die gemeinsam mit der hohen Melodie nicht nur eine Nostalgie für die ostasiatische Ferne liefern, sondern auch ganz im Stile des Impressionismus die einzelnen Noten inmitten eines Klangbildes verschwimmen lassen. Besonders durch die vielen leeren Intervalle, wie etwa Quintparallelen wird ein Bild von Ruhe und Altertum vermittelt. Man stellt sich die verlassene, leicht verfallene Pagode bildlich vor einem vor und was für eine Geschichte sie zu vermitteln hatte. Stilistisch und thematisch ähnelt es also einem anderen Stück von Debussy la Cathédrale engloutie, der versunkenen Kathedrale, wo es auch um ein religiöses Bauwerk geht und welche Gefühle dabei vermittelt werden. Genau wie in diesem Stück bricht Debussy in jenem mit bisherigen Dogmata der klassischen Musik durch z.B. die bereits erwähnten Quintparallelen und eine eigene unkonventionelle Harmonik.3Eine etwas genauere Analyse: https://www.jochenscheytt.de/debussy/debussywerke/cathedrale.html
Quellen/Anmerkungen
- 1
- 2
- 3Eine etwas genauere Analyse: https://www.jochenscheytt.de/debussy/debussywerke/cathedrale.html