Das Leben ist eine Lotterie, mögen manche sagen. Ob man aus armen oder reichen Verhältnissen, in der Stadt oder auf dem Land, oder in Europa oder Afrika geboren ist, kann man nicht selbst entscheiden. Und doch ist es eine der Kernaufgaben unseres staatlichen Bildungssystems, jedem die Chance des Aufstieges zu versprechen. Dass hierbei auch der Zufall eine Rolle spielt, will ich mit einer kleinen Anekdote aus meinem Leben illustrieren. Natürlich ist das nur anekdotische Evidenz und sollte allenfalls mit einem Augenzwinkern gelesen werden.
Meine Oberstufe war ungewöhnlich
Um den Kontext zu verstehen, muss ich zunächst erklären, dass meine Zeit in der 11. und 12. Klasse keine gewöhnliche war. Aus Jux und Tollerei besuchte ich schon früh universitäre Veranstaltungen und warb entsprechende Leistungsnachweise. Dies hatte zur Folge, dass ich immer wieder im Unterricht fehlte und lieber mit der S‑Bahn zur TU fuhr (mehr dazu hier). Ab und zu jedoch gab es Freistunden, etwa wenn der Universitätsdozent krank geworden war, oder wenn ich einfach Zeit überbrücken musste. Da ging ich dann wohl in den endgültigen Streber-Modus und besuchte andere Unterrichtsveranstaltungen mit der Erlaubnis des Lehrers. Mit einem Deutsch-Lehrer verstand ich mich hierbei besonders gut und den Deutsch-Leistungskurs besuchte ich gerne, wo wir in einem Unterrichtsblock einmal ein Gedicht interpretiert haben. Das merken wir uns einmal, weil es später wichtig wird.
Das war schon in der regulären Uhrzeit beachtlich, bedeutete es doch, dass ich sämtlichen verpassten Schulstoff nachahmen musste. Aber ich war dennoch entschlossen – und hier ergriff mich die Tollheit wohl endgültig – meine universitären Lehrveranstaltungen auch in der Phase zu besuchen, wo wir die letzten fünf Abitur-Prüfungen schrieben. Während also andere voller Panik für ihr Mathematik-Abitur lernten oder bereits das Handtuch warfen, besuchte ich meine geliebten Vorlesungen der Analysis III und lernte kaum für meine Prüfungen.
Die Abiturprüfungen
Zum Mathematik-Abitur lernte ich gar nicht. Bevor wir in die Aula gingen, holte ich mir beim Bäcker ein paar Brötchen und machte mir einen Tee. Die Prüfung schrieb ich ohne Angst, ich nahm sogar ungefähr 40 Minuten Pause, um in aller Seelenruhe mein Brot zu essen und Wasser zu trinken. Dass ich dabei meine Mitschüler, die natürlich mein Faulenzen während der Prüfung bemerkt haben, nervös machte, war mir zu dem Zeitpunkt gar nicht bewusst und unbeabsichtigt. Das war übrigens dieselbe Abitur-Prüfung, gegen die 2019 protestiert wurde, dass sie zu schwer sei.1https://rp-online.de/politik/deutschland/mathe-abi-2019-zehntausende-schueler-protestieren-angeblich-zu-schwer_aid-38607095
Dass das nicht ganz aufging, wurde mir schnell offenbar. Ich bin mit 13 Punkten aus der Prüfung gegangen, was meine schlechteste Abitur-Leistung war, aber es war dennoch eine 1‑, also ein gutes Ergebnis, und Mathematik war als Studiengang NC-frei, also hätte ich genau so gut jede Abiturprüfung mit 5 Punkten schreiben können; es wäre egal gewesen. (Zugegebenermaßen war es dann später nicht mehr egal, als ich mich noch einmal für den NC-beschränkten Fach Philosophie beworben habe, aber das ist noch eine andere Geschichte).
Aber das Glück wollte keineswegs, dass ich schlecht abschnitt, anders konnte ich mir nämlich nicht erklären, was sich in meinem Deutsch-Abitur abspielte. Ich wählte nämlich Deutsch als mündliche Prüfung und wusste schon im Vorhinein, dass ich ein Gedicht zu interpretieren habe. Auch wenn ich einen Hang zur Poesie besaß, war das zu interpretierende Gedicht ganz sicher ein modernes, womit ich – gelinde gesagt – wenig anfangen konnte. Als ich allerdings in den Vorbereitungsraum ging und das Gedicht, welches über 20% meiner Abiturprüfung entscheiden sollte, mich anstarrte, konnte ich meinen Augen kaum glauben.
Es handelte sich um dasselbe Gedicht, was ich damals, als ich aus Langeweile mich in einen anderen Kurs gesetzt habe, 90 Minuten lang interpretiert habe! Streng genommen war das kein Schummeln, keineswegs. Ich wusste ja nicht, was für eine Prüfung bevorstehe, aber es fühlte sich dennoch so an.
So frech und verschmitzt, wie ich aber war, besaß ich den Mut zu Beginn der Prüfung eine der Prüferinnen zu fragen, ob sie das Gedicht denn nicht von dem einen Lehrer hatte, was sie ausdrücklich verneinte. Dann ging die Prüfung los. Die Prüferinnen hatten ein ausgeprägtes Pokerface, aber so wie ich das später erfahren habe, waren sie von meiner Prüfungsleitung begeistert, wie ich in so weniger Zeit eine so gute und ausführliche Interpretation verfassen konnte. Dass ich knapp 90 Minuten extra Zeit hatte, an die ich mich nur zurückzuerinnen musste, wussten sie nicht.
Ihre Reaktion konnten sie aber nur am Gesicht verbergen, denn eine Prüferin hakte ungläubig nach, ob ich denn das Wort Neologismus definieren könne (offenbar habe ich das kurz zuvor benutzt und sie wollte nicht glauben, dass das zum Wortschatz eines 18-Jährigen gehören könne). Am Ende der Prüfung fragte mich eine andere Frau, ob mir denn Gedichte Spaß machen würden, was ich ausdrücklich bejahte. In dem Moment konnte ich aber nichts anderes als zuzugeben, dass ich das Gedicht schon kannte und deshalb einen kleinen Vorteil hatte. Wir haben herzlich gelacht und auch der Lehrer, mit dem ich das Gedicht damals eine Stunde lang gemeinsam interpretierte, war von dieser Begebenheit sehr entzückt. Es gab darauf 15 Punkte.
Was wir daraus lernen können
Eigentlich können wir aus dieser anekdotischen Geschichte nichts lernen, außer ein wenig zu schmunzeln. Aber ich finde, die Geschichte zeigt noch einmal, wie groß die Rolle des Zufalls im Leben ist. Dass ich ausgerechnet zum Abitur, eine der wichtigsten Prüfungen meines Lebens, die Aufgabe schon kannte, war ein unglaublich großer Glücksgriff, der wohl sehr selten passiert. Es ist nicht meine Absicht, mit der Geschichte zu prahlen, schließlich kann ich nichts für Glück, aber ich hoffe, dass ich damit einige von euch zum Schmunzeln gebracht habe.
Na ja, mir ist einmal an einer anderen Gelegenheit ein „Faux Pas“ unterlaufen, wodurch fast der gesamte Kurs eine Note 1 auf eine Klausur bekam, aber das ist eine andere Geschichte.
Quellen/Anmerkungen
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